Gesucht: ein Zeichen
von Werner Leuthner
„Und denk’ daran, Harmonie ist das höchste Gut!“ – Ich weiß’ es noch wie heute, mit diesem Satz hat mich meine Mutter in die Flitterwochen verabschiedet. Ich hatte anderes im Sinn, die Reise, die bevorstand, und ob wir auch nichts Wichtiges vergessen hatten, so nickte ich ihr verständnisvoll zu und küsste sie auf die Wange. Gute Mütter machen sich eben immer Sorgen. Die Fahrt durch ein Stück des Atlasgebirges mit Geländewagen war aufregend und anstrengend. Und dann der Gegensatz: die faszinierenden marokkanischen Königsstädte und die super Hotels. Nein, diese Reise stellte meine Harmoniefähigkeit auf keine Probe.
Agnes seufzte, trat einen Schritt vom Fenster zurück und zog den transparenten Vorhang zu. Sie setzte sich an den Couchtisch goss sich von ihrem Grünen Tee ein und nippte daran.
Ich konnte mir damals nicht vorstellen, dass es zwischen Bruno und mir jemals Probleme geben könnte. Wenn einmal Probleme auftauchen sollten, so könnten sie nur von außen kommen. Und wir würden sie alle gemeinsam bezwingen, davon war ich felsenfest überzeugt. “Probleme – wo seid ihr? Ihr habt bei uns keine Chance!“ habe ich damals übermütig gerufen, wenn ich alleine war.
Und heute? Also 15 Jahre später: Bruno und ich haben weiter keine Probleme miteinander.
Wir sind beide gesund. Auch von außen gab es keine Probleme. Bruno hat Karriere gemacht. Jetzt, da er im Vorstand der Volksbank in Bramsmühl ist, ist er noch mehr belastet als früher. Trotzdem, wenn er so um 7 Uhr abends heimkommt, begrüßt er mich weiter mit einem Küsschen, jetzt auf die Stirn, versucht irgend etwas Nettes zu sagen, bringt sicher einmal in der Woche Blumen mit und hat noch nie unseren Hochzeitstag vergessen. Er mäkelt nie an dem Essen, das ich uns vorbereitet habe . Doch dann merke ich, wie mühsam ihm die Unterhaltung fällt.
Er fragt so nach, was sich bei mir ereignet hat, den Tag über. Was sollte sich bei mir schon ereignen? Vormittags mache ich meinen Job im Grundbuchamt, also Grundbuchauszüge fertigen und nachmittags bin ich zu hause, mache meinen Haushalt und warte.
Ein halbes Jahr nach unserer Heirat habe ich meine Stelle reduziert auf 50 Prozent. Dabei musste ich wechseln vom Bürgeramt mit dem vielen Publikumsverkehr ins Grundbuchamt. Die halbe Stelle war vorsorglich, wenn dann ein Kind kommt. Aber es wollte keines kommen. Was haben wir alles unternommen – vergeblich. Aber Bruno wollte keinesfalls ein Kind adoptieren: man weiß nie, welche Laus man sich da in den Pelz setzt! sagte er. Das war’s dann. Auch sollte ich nicht wieder Vollzeit arbeiten, es könnte ja doch noch – wider Erwarten – klappen. Dabei haben wir seit Jahren nicht mehr miteinander geschlafen. Nicht dass ich darauf ein besonderes Verlangen gehabt hätte. Aber es wäre ein Mehr an Nähe gewesen. Wenn ich zu ihm hinüber auf seine Seite gerutscht bin, hat Bruno abgewehrt: Ach Schatz, das ist aber lieb von Dir, aber ich bin wirklich so müde – ein ander mal!
Ja, das mit dem Erschöpftsein war nicht mal gespielt, ich merkte ja, dass er gleich in Tiefschlaf fiel und der Wecker ihn um 6 Uhr am Morgen von weit her holte. Ich konnte dagegen immer schlechter schlafen und lag stundenlang wach. Manchmal bin ich dann aufgestanden, habe auf der Couch in unserem Marokko-Album geblättert oder ganz leise zum Beispiel Giora Feidmanns „Dance of Joy“ gehört und an einem Schlückchen Portwein genippt. Das wärmt so schön. Aber ich schweife ja ab.
Auf seine Frage, wie ich so meinen Tag erlebt habe, erwidere ich: Nichts Besonderes – the same procedure als every day. Alles o.k. – Erzähl’ doch Du: Hat der Karstadt in Bramsmühl schon dicht gemacht? Ist der Bahnhof dort endlich fertig? Was erlebst Du bei Deinen Fahrten? Gehst Du noch dort in die Kantine? Schmeckt es Dir dort?
Bruno macht mir den Gefallen und beantwortet meine Fragen kurz. Spätestens beim fünften Satz ist er bei seiner Volksbank, den schönen Bilanzen, den guten Provisionen, eine Übernahme einer kleinen Privatbank und alles bedeutet sehr, sehr viel Arbeit für ihn, wenn es weiter so gut laufen soll.
Vielleicht sollte ich umschulen auf Bankkauffrau – nicht um in diesem Beruf zu arbeiten, nur um ihm eine angemessene Zuhörerin zu sein? Agnes seufzte und nippte wieder an ihrem Tee. Er war inzwischen kalt. Nein, das würde nichts ändern.
Inzwischen gehöre ich genauso zu seinem zuhause wie diese Couch hier, das Sideboard, die Regalwand, der Ledersessel unter der Stehlampe.
Wenn ich weg wäre, würde er mich vermissen, tatsächlich, es würde ihm die Agnes fehlen wie zum Beispiel die Stehlampe, wenn ich diese in den Speicher brächte.
Wenn ich nun schon zu einem Bestandteil dieser Wohnung geworden bin, dann könnte ich ja gehen. Zumindest probeweise. Zum Beispiel in den Speicher. Aber was sollte ich im Speicher? Verstecken spielen und hoffen, dass mich Bruno bald findet und dann hoch zufrieden ist, dass nichts aus der Wohnung fehlt? Nein. NEIN. Ich sollte gehen! Aber wo sollte ich hin? Agnes seufzte tief.
Ich hab’ doch keinen Grund! Viele Frauen würden sich die Finger abschlecken nach so einem Leben. Geordnete Verhältnisse, gute Verhältnisse. Jeden Winter eine Woche Skifahren in Damüls, seit Jahren in der gleichen Pension, jeden Sommer 14 Tage wandern rund um Meran, auch seit Jahren in der gleichen Pension. Agnes ächzte: der völlige Mangel an Problemen beunruhigte sie jetzt.
Sie fand, die ewige Gleichförmigkeit gab ihr eine Sicherheit, die für sie wichtig war. Aber irgendwie war es zu viel davon geworden. Es lähmte sie und nahm ihr gleichzeitig den Atem. Es muss sich was ändern! Aber was und wie?
Agnes trat wieder an das Wohnzimmerfester, zog den Store zurück und blickte hinunter auf die Straße. Es dämmerte bereits.
Wenn mir nur jemand die Entscheidung abnehmen würde. Jemand, der mir klar sagt: Ja – das ist ein unwürdiger Zustand, den man nicht fortführen kann, nicht fortführen darf, wenn man die Achtung vor sich selbst nicht verlieren soll. Wenn ich nur ein Zeichen bekäme! Hier in dieser Wohnung mit seiner ewigen Gleichförmigkeit kann ich kein Zeichen erwarten, ich muss raus.
Agnes zog Schuhe und Mantel an, griff sich ihr kleines Handtäschchen, kontrollierte, ob sich Papiertaschentücher, Schlüssel und Geldbeutel darin befanden und hängte es um. Unten auf der Straße überlegte sie noch, ob sie für Bruno einen Zettel hätte schreiben sollen. Sie verwarf diesen Gedanken. Jetzt war es 18 Uhr und in einer Stunde – zu Brunos Eintreffen – wäre sie sicher zurück. Er wird dann eben einmal auf sein Abendbrot etwas warten müssen. Ein Ziel hatte sie nicht, ihre Beine gingen für sie.
Agnes überlegte: Wie erkenne ich ein Zeichen? Dass es nur für mich ist, speziell für mich. Ein besonderes Ereignis auf meinem Weg? Ein spektakulärer Unfall oder ein keines Kind, das im Fußgängertreiben den Anschluss an die Mutter verloren hat? Das flüchtige Lächeln einer Passantin, die mich aus Versehen angerempelt hat? Eine Ente, die verstört auf einer Verkehrsinsel hockt?
Und wenn ich denn so ein Zeichen entdecken würde, wie könnte ich es entziffern? Welche Botschaft könnte ich dann für mich herauslesen?
Agnes war am Bahnhof angekommen. Sie hob die Schultern, ließ sie wieder fallen und seufzte dabei: Ja, wenn ich schon hier bin, dann hole ich eben Bruno ab – der wird aber überrascht sein. Sie strebte dem S3-Bahnsteig zu, denn da kommen auch die Pendler von Bramsmühl an. Oben an der Rolltreppe verharrte sie und beobachtete die Menge unten, alle strömten der Rolltreppe zu. Nur zwei nicht, die standen im Weg: sie hatten sich eng umschlungen und küssten sich. Um dieses Hindernis herum flutete die Masse. Da hob der Mann das Gesicht und sah nach oben: es war Bruno.
© by Werner Leuthner Villingen 2010_2011
Tanja Fisher meint
Sie sollten sich an einem Wettbewerb für den besten Blog
im Internet beteiligen.
Ich werde Verfechter dieser Website!