von Werner Leuthner 11/19
Anette bürstete das Jackett ihres Mannes aus und griff dabei – eher routinemäßig als neugierig – alle Taschen ab. Dabei fand sie gelegentlich ein benutztes Papiertaschentuch oder ein U-Bahnticket in einer der Außentaschen. Sie drehte nun die Innenseite der Jacke nach außen, um das Futter zu kontrollieren. Die Innentaschen waren erfahrungsgemäß immer leer. Doch aus dem Handyfach, unter der linken Brusttasche, lugte diesmal ein Eckchen Weißes hervor. Anette zupfte ein gefaltetes Papier von halber Postkartengröße heraus. Sie zog es auseinander: es war eine vorgedruckte Quittung, herausgerissen aus einem Zweckform-Quittungsblock. Ausgefüllt von Hand und mit Kugelschreiber, eine unregelmäßige kleine Schrift, nicht alle Felder ausgefüllt. Der Eintrag lautete:
AA |
Für Dienstleistungen im 3. Quartal 2019 erhalten: |
€ 295,- in Worten: Zweihundertfünfundneunzig |
B. Juskowiak |
B. Juskowiak: jedenfalls entzifferte sie die hingehudelte Unterschrift so.
Die Schrift gefiel ihr nicht und sie übertrug ihre Ablehnung auf den Schreiber oder die Schreiberin. Wer mochte das sein?
Und: Empfänger oder Auftraggeber für die Dienstleistungen war ja keiner angegeben.
Anette ließ das Jackett hängen; sie ging, die Quittung in ihrer Rechten in das Wohnzimmer und ließ sich in einen Sessel plumpsen.
Das Einfachste wäre ja, ihrem Mann abends nach dem Grund für diese Quittung zu fragen. 295 Euros sind sind ja auch kein Pappenstiel. Aber davon wollte sie vorerst Abstand nehmen: Simon würde wie immer, wenn er sich kritisiert fühlte, heftig reagieren. Was, wenn er behaupten würde, er habe den Zettel gefunden, ihn irgendwie für wichtig erachtet und einfach so eingesteckt. Quittungen hätten für Finanzmenschen wie ihn nun mal eine besondere Bedeutung.
Doch diese Möglichkeit hielt sie für unwahrscheinlich, sehr unwahrscheinlich.
Was könnte er mit einer fremden Quittung anfangen, nichts – außer sich über die unvollkommene Ausgestaltung zu wundern?
Nein, Simon muss damit etwas zu tun haben!
Trotzdem wollte sie ihn mit diesem Fund nicht konfrontieren, noch nicht. Vielleicht würde sie ja noch mehr Klarheit gewinnen.
Die Quittung deponierte sie in ihrem Sekretär.
Als Simon nach Hause kam, sprach sie ihn nicht darauf an. Ihr Geheimnis freute sie irgendwie, sie war gut gelaunt und sie verbrachten einen entspannten Abend zusammen. Beim Zubettgehen machte er ihr noch ein Kompliment: er habe sie schon lange nicht mehr so fröhlich erlebt, fast so, als hätte sie unverhofft einen Lottogewinn erhalten…
Am nächsten Vormittag setzte Anette sich an den PC und gab in die Suchmaschine „A A“ ein. Über die Fülle an Treffern war sie dann doch überrascht:
– Autokennzeichen von Aalen, Ostalbkreis: weiter!
– Aa-See in Münster/Westf.: Noch nie gehört. Dass man dem See keinen „richtigen“ Namen gegeben hatte?
– AA: bestimmte Batteriegröße – O.K.
– Anonyme Alkoholiker: Fehlanzeige
– American Airlines: Quatsch
– Auswärtiges Amt: Nö!
– Arbeitsamt: Bestimmt nicht
– Athletics Austria: Da führt ja kein Weg hin!!
– eine mögliche Einstufung (AA) von Rating Agenturen:
Bestimmt nicht, da geht es um ganz andere Summen und nicht um knappe 300 Euros
– Alibi-Agentur: Sie stutzte. Was ist denn das? Noch nie gehört! Klingt interessant.
Sie suchte bei „AA“ nicht weiter, sondern googelte „Alibi-Agentur“ und erfuhr, dass dies Firmen sind, die auf Bestellung und gegen Bezahlung ein Alibi bereitstellen.
Anette schaltete ihren PC aus. Sie ging lange im Wohnzimmer auf und ab.
Alibi! Wann war Simon alleine unterwegs? Nur in Verbindung mit Dienstreisen…
Dem wollte sie nachgehen und die Eintragungen im „Haus-Kalender“ überprüfen!
Ja, im September war Simon zweimal auf Dienstreise: jeweils ab Donnerstag Nachmittag bis Samstag Vormittag. Meyer Finance Group, Bonn stand da und Dormero-Hotel
Auch früher schon war Simon nach Bonn gereist.
Genauer gesagt, immer wieder.
Wenn er angerufen hatte, dann stets mit dem Handy – also ohne Vorwahl-Nummer.
Sie erinnerte sich, dass Simon einmal von Beratungen über Anlageempfehlungen für Kunden gesprochen hatte. Und welche Anlagen vorteilhaft wären – vorallem für ihre Firma.
Zwei Abende! Zwei Nächte! Wen könnte er da getroffen haben?
Hatte er eine Geliebte? Er, der knochentrockene, exakte Mensch? Poohh!
Oder – war Simon in Wirklichkeit schwul?
Sie hatte erst kürzlich von einem Mann gehört, der – obwohl er Vater dreier Kinder war – sich später zu Männern hingezogen fühlte und nun einem eine intime Beziehung pflegte…
Anette schüttelte den Kopf: An diese Möglichkeit kann ich einfach nicht glauben! Völlig unwahrscheinlich. Simon hat nie einem Mann hinterhergesehen, einer attraktiven Frau schon. Also ehrlich, mir wäre auch die erste Variante deutlich lieber. Simon und eine Geliebte? Und wenn es so wäre?
Sie zuckte mit ihren Schultern.
Ich verspüre keine Eifensucht. Im Gegenteil. Wir leben miteinander und doch lebt jeder von uns sein eigenes Leben. Aber vielleicht würden wir beide ja davon profitieren. Vielleicht würde es ja wieder Schwung in unsere Beziehung bringen…Aber ich würde schon verdammt gern wissen, mit wem er da die Abende oder Nächte verbringt.
Sie blätterte die Brigitte durch und blieb bei Schminkempfehlungen hängen. Da hatte sich eine Frau mit wilden Haarsträhnen stark geschminkt. Wild wie so als eine Art Medusa. Und es sah erst noch gut aus: diese dunkelgrünen, dunkelroten und brombeerfarbenen Töne. Mit Dunkelgrün und Dunkelrot konnte sie persönlich wenig anfangen, aber mit Brombeer. Vielleicht aber noch mehr mit Aubergine? Es betont und wirkt doch nicht knallig.
Sie ging zum Spiegelschrank, nahm die Schale mit ihren Schminksachen heraus und probierte diese einzeln. Der Eyeliner war eingetrocknet, ihr kirschroter Lippenstift spröde, der Puder roch eigenartig. Letztlich blieb bei dieser Aufräumaktion nur der Kajalstift übrig.
Vor dem Spiegel zog Anette sich damit einen dünnen Lidstrich, betrachtete sich und nickte ihrem Spiegelbild zu.
Sie fand, auberinefarbene Lippen würden zu ihr passsen: Genau so einen Lippenstift würde sie sich kaufen.
Anette war an Simons Verhalten wirklich nichts aufgefallen.
Bevor sie diese Agenturen mit ihm in Verbindung brachte, wollte sie mehr über solche Einrichtungen herausbringen. So aus persönlicher Neugier. Anette grübelte weiter und begann zu büglen. Bei ihren Recherchen durfte sie sich nicht als die mißtrauische Ehefrau ausgeben – sie musste sich als Kundin einschleichen.
Beim Eingeben von: „Alibi-Agenturen, Adressen“ erhielt sie drei Treffer. Eine in Stuttgart, eine in Frankfurt und eine in Hamburg.
Vielleicht war es die einfach zu merkende Nummer, dass sie zuerst in Hamburg anrief.
Schon nach drei Klingeltönen meldete sich eine freundliche Frauenstimme. Anette trug ihren Wunsch vor. Die Frau verwies sie auf die homepage der Einrichtung – dort könne sie alles Notwendige erfahren – der Versand von Infomaterial sei nicht vorgesehen. Nach der Durchsicht der homepage könne sie sich gerne wieder melden, wenn sie zur Auffassung gelangt sei, dass man ihr mit ihrem Anliegen helfen könne.
Anette war enttäuscht. Lange Abhandlungen am Bildschirm zu lesen war ihr zuwider. Aber sie kämpfte sich durch und legte sich dann folgenden Plan zurecht:
Bei einem Kollegentreffen habe ich einen jungen Mann kennengelernt, den Sohn einer Freundin. Ich, die verheiratete Frau. Er halb so alt wie ich. Eigentlich eine unmögliche Sache. Trotzdem haben wir uns in einander verliebt. Jedem von uns ist klar, dass es eine vorübergehende Angelegenheit sein wird. Aber wir wollen diese Affaire auskosten.
Und wir können uns nur ca. zweimal im Monat treffen und in Bonn soll es sein.
Ob die Agentur nicht eine ehemalige Schulkameradin in Bonn konstruieren könne…
Weitere Detais würden ihr schon noch einfallen.
Anette stellte sich ihren Mann vor – und wie er vorgehen würde. Er, der so auf Effizienz aus war, der Umwege scheute, Winkelzüge verabscheute…Simon würde sich auf das absolut Notwendige beschränken, um sein Ziel zu erreichen. Deshalb würde Bonn vermutlich stimmen und vielleicht sogar auch das Hotel.
Es würde keinen Sinn machen, ihm im Bahnhof nachzuspionieren, ob er auch den Zug nach Bonn nimmt. Er wird ihn nehmen.
Wenn sie früher schon mal abends in diesem Hotel angerufen hatte, hieß es, die Sitzung würde noch andauern. Ob man etas ausrichten könne?
Vermutlich stecken die von der Reception mit der Alibi-Agentur unter einer Decke. Sie werden sich stets anbieten, Nachrichten weiterzuleiten oder auf Simons Mobilnummer verweisen….
Anette hatte nun neben ihrem großen Garten, ihrem Gewächshaus und der Bridgerunde am Mittwoch Abend ein zusätzliches Hobby als Privatdedektivin gefunden. Und es machte ihr Spaß. Sie wollte diesen Fall klären und zu einem positiven Ende bringen – für beide.
Drei Alibi-Agenturen – Stuttgart war distanzmäßig die Nächste. Sie rief an und meldete sich mit “ Banholtz“, ihrem Familiennamen.
Eine frische Männerstimme antwortete: „Hallo, Herr Banholtz!“
Kurzes Schweigen, dann: “ Sorry, – da ist bei mir was durcheinander geraten. Was kann ich für Sie tun, Frau Banholtz?“
Anette legte auf.
Also doch – soviele „Banholtze“ wird es nicht geben
Mit größter Wahrscheinlichkeit war ihr Mann Kunde bei dieser Alibi-Agentur.
Im Geist klopfte sie sich auf die Schulter und verlieh sie sich die Sherlock-Holmes-Medaille. Schade fand sie nur, dass nun ihr Plan mit dem jugendlichen Liebhaber gar nicht mehr zum Tragen kommen wird.
Im Umgang mit Simon hatte sich für sie fast nichts verändert – sie fand ihn auf einmal interessanter.
Aber warum hatte Simon diese Agentur überhaupt eingeschaltet? Sie hatte ihn bislang nie kontrolliert. Anette führte es auf seinen Hang zur Perfektion zurück – keine Eventualitäten, alles sollte seine Ordnung haben.
Was mag das für eine Frau sein, mit der sich Simon einläßt, rätselte Anette.
Ein „Simone de Beauvoir“-Typ wird es keinesfalls sein – viel zu anstrengend für ihn. Auch den Typ „Verrücktes Huhn“ schied Anette aus; sicher zur Abwechslung interesssant, aber auch zu anstrengend.
Na, vielleicht ist sie auch Lehrerin, so wie ich es war. Aber interessant geschminkt! Und statt mit dem Anbau selterer Tomatensorten in meinem Gewächshaus wie ich gibt sie sich mit Ausdruckstanz ab….
Korrekt wie Simon war, kündigte er seine nächste Bonnfahrt rechtzeitig an. Am nächsten Donnerstag sollte es wieder so weit sein.
So hatte Anette genügend Zeit, für den darauffolgenden Freitag den Nachmittagszug nach Bonn zu buchen und auch eine Übernachtung im Dormero. Für diesen Versuchsballon sollte ihr erstmal ein Abend reichen.
Anette hatte sich schick gemacht: die hellblauen Jeans, den dunkelblauen Pulli, den gleichfarbenen Blazer, das helle Halstuch, die hellen Slipper. Sie fühlte sich in dieser sportlichen Kombination sehr wohl.
Und sie hatte den auberginenfarbigen Lippenstift aufgetragen und dünn den Lidstrich.
Ihren Platz hatte sie in der Hotellobby in einer Nische so genommen, dass Hereinkommende sie nicht gleich sehen konnten, aber sie den Überblick behielt. Ihren Aperol Spritz trank sie in kleinen Schlückchen. Die vor ihr liegenden Bonner Nachrichten dienten nur der Dekoration.
Die Zeit verging; nach dem Aperol bestellte sie einen Espresso und noch einen. Dann – endlich – vernahm sie Simons Stimme. Er kam seitlich – wohl von einem Konferenzraum – mit einem etwa gleichalten Herren. Simon geleitete diesen zum Ausgang, verabschiedete sich von ihm, drehte sich um und ging in die Halle zurück.
Da erblickte er Anette. Wie angewurzelt blieb er stehen, bewegungslos, den Mund offen, eine Ewigkeit lange.
Schließlich winkte Anette ihn zu sich. Ganz langsam kehrte Leben in ihn zurück. In Zeitlupe bewegte er sich auf sie zu.
„Du … hier, … Anette?“
„Jaaa“, erwiderte sie fest, „Ich habe auf dich gewartet!“
Simon nahm Platz. Und starrte sie an. „Und jetzt?“, fragte er schließlich.
„Und jetzt?“, fragte sie zurück. „Du warst schon so oft hier – willst Du mir Bonn zeigen?“
Und nach einer Pause: „Aber vielleicht willst Du vorher noch jemand Bescheid geben?“
Simon schwieg eine Weile, dann schüttelte den Kopf und erhob sich: „Dann lass‘ uns gehen. Du zahlst noch und ich hole solange meinen Mantel. Wir treffen uns gleich am Ausgang!“
Anette hängte sich bei ihm ein und sie zogen los. Je weiter sie das Hotel hinter sich ließen, desto gesprächiger wurde Simon. Zuerst nur über die Firma, doch dann auch über sie beide. Den Abend verbrachten sie gut gelaunt in einem Lokal an den Rheinterrassen.
Irgendwann stockte er: „Du, sag‘ mal…“
Anette schmunzelte, zog die AA-Quittung hervor und reichte sie ihm.
Er nahm sie entgegen, zerriß sie und meinte: „Komm‘, laß‘ uns zurück ins Hotel gehen!“
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