von Werner Leuthner, Villingen, Oktober 2021
Der Terminkalender von Clemens Bach war ziemlich gefüllt – jedenfalls für einen Rentner wie ihn. Treff des Schwarzwald-Vereins, Geschichts- und Heimatverein, Stammtisch der Betriebsrentner der HydraulAG.
Ja, und wenn das Wetter nicht zu schlecht war, stand am Mittwoch-Nachmittag ein Besuch auf dem Friedhof auf seinem Programm. Dort besuchet er das Grab seiner früh verstorbenen Frau.
In diesem Gräberfeld hatte es schon lange keine Veränderung mehr gegeben. Doch nun, seit seinem letzten Besuch, war eine aufgelassene Stelle neu belegt worden.
Auf dem provisorischen Holzkreuz stand in drei Zeilen: „Paul Aveno, 1965 – 2020, Die Kraft aus dem Vergehen“. Kein Bild.
Der Name gefiel Clemens, drei Vokale in diesem kurzen Wort. Nur 55 Jahre alt ist dieser Paul geworden. Heutzutage ist das doch kein Alter für Männer; rein statistisch gesehen hätte er 74 Jahre alt werden müssen, dieser Paul. Er selbst war schon 79 – also fünf Jahre überfällig. Das Schicksal dieses Paul beschäftigte ihn: Unfall? Krebs? Mord gar?
Den Namen „Aveno“ hatte er hier im Städtle noch nie gehört. Und in seiner Zeitung war keine entsprechende Todesanzeige gewesen. Doch was sollte die Aussage „Die Kraft aus dem Vergehen?“ Ein Psalm war es jedenfalls nicht.
Schon nach drei Wochen war das Holzkreuz durch einen Grabstein ersetzt worden. Schwarzer Marmor, die Front poliert, mit den gleichen mageren Angaben wie zuerst auf dem Kreuz und vielleicht einen Meter hoch. Dass das Grab nur mit Bodendeckern bepflanzt war, ließ nur den Schluss zu, dass man wenig Aufwand mit der Grabpflege betreiben wollte.
Clemens kannte alle Angehörigen, die in dieser Parzelle die Gräber ihrer Verstorbenen aufsuchten, Doch als er wieder einmal den Friedhof besuchte, bemerkte er eine fremde Person auf diesem Gräberfeld. Er näherte sich, die Fremde stand am Aveno-Grab. Nun stand er drei Schritte hinter ihr und räusperte sich. Die Frau fuhr herum und blickte ihn fragend an.
„Ich habe Sie noch nie hier gesehen, hier auf „unserem“ Abschnitt. Ich heiße Clemens Bach – meine Frau liegt seit zwölf Jahren hier!“, sagte Clemens und deutete mit dem Daumen in die Richtung. „Kann ich Ihnen meine Gießkanne leihen?“ Die Frau schüttelte den Kopf.
Geraume Zeit standen sie so. Je länger ihr Schweigen dauerte, desto sicherer war sich Clemens, dass sie einem Gespräch nicht grundsätzlich abgeneigt war.
Er betrachtete sie: vielleicht 40 Jahre alt, ein rundliches, eher fahles Gesicht, kurze dunkelbraune Haare, schlank, nein eher dünn, vielleicht eins sechzig groß, gepflegte Erscheinung.
„So, haben Sie mich jetzt gemustert und beurteilt?“ unterbrach ihn die Frau leicht spöttisch.
„Sind sie verwandt mit Herrn Aveno und auf der Durchreise und haben dabei diesen Grabbesuch gemacht?“
Sie schüttelte erneut den Kopf und ein schwaches Lächeln lag nun auf ihren Lippen.
„Ich bin nicht verwandt mit Herrn Aveno, aber ihm dauerhaft sehr verbunden. Ich bin auch nicht auf der Durchreise, sondern wohne hier, im Neubaugebiet Uhlandpark. Allerdings verbrachte ich das letzte Vierteljahr in der Uniklinik Freiburg, in der Abteilung für Transplantations-Medizin und war lange in der Intensiv. Meine einzige funktionierende Niere stammt von Herrn Aveno“.
Clemens schwieg betroffen. Auch die Fremde sagte nichts. Dann ging ein Ruck durch sie: „Ich gehe jetzt! Ade, Herr…? „Bach“, ergänzte Clemens. Langsam entfernte sich die Fremde.
Komisch, dachte sich Clemens, sie hat nicht „Auf Wiedersehen“ gesagt. Ob sie nochmals hierher kommt? Wer mag sie sein? Organspende. Vermutlich hatte dieser Aveno einen schweren Unfall und einen Organspende-Ausweis bei sich. Aber erfolgen Organspenden nicht grundsätzlich anonym? Wie hat diese Frau von ihrem Organspender erfahren? All diese Fragen beschäftigten Clemens auf seinem Heimweg.
Seit dieser Begegnung mochte ein Monat vergangen sein, als er die Fremde wieder am Aveno-Grab sah. Ihre Rechte lag auf dem Stein, sie war so in sich versunken, dass sie ihn nicht bemerkte.
Clemens versorgte das Grab seiner Frau, dann trat er zu ihr. „Guten Tag“, grüßte er. Sie wandte sich ihm zu und lächelte nun leicht. „Ah – Sie sind’s!“
„Entschuldigung, ich muss sehr aufdringlich erscheinen. Aber Sie sind der erste Mensch mit einem Spenderorgan, der mir begegnet ist! Das beschäftigt mich sehr. Wie lebt man denn damit?“ Sie antwortete nicht.
Und nach einer Pause fragte er nach: „Kommen Sie gelegentlich hierher? Ich habe Sie schon lange nicht mehr gesehen, Frau…?“
„So oft es mein Beruf erlaubt – ich bin wieder im Außendienst tätig. Im Schnitt zweimal in der Woche, doch wohl zu anderen Zeiten, als Sie auf dem Friedhof sind!“
Auf die Frage nach ihrem Namen ging sie nicht ein.
„Verzeihen Sie“, fuhr Clemens fort, „aber ich war so informiert, dass die Organspende völlig anonym verläuft, der Empfänger also nie erfährt, von wem das Organ stammt!
„Das ist wohl der Regelfall. Doch im Nachlass von Paul Aveno fand sich die dringende Aufforderung an seinen Sohn, den Empfänger oder die Empfängerin ausfindig zu machen und dieser Person eine Botschaft zu übergeben“.
„Und haben Sie die Botschaft erhalten?“
„Ja, Aveno jr. hat auf irgendeine Weise meinen Namen und meine Anschrift ausfindig gemacht und mir diesen Brief übergeben. So, und jetzt breche ich wieder auf. Ade, Herr…“. „Bach“, ergänzte Clemens.
Die Angelegenheit wurde für Clemens immer mysteriöser. Was mag in dem Brief gestanden haben? fuhr es ihm durch den Kopf. Und kommt sie deswegen? Oder aus purer Dankbarkeit? Was mag dahinter stecken?
Die Wahrscheinlichkeit, diese Frau hier auf dem Friedhof zu treffen, war gering. Noch geringer war sie, ihr zu begegnen, wenn er in ihrem Stadtviertel spazieren lief, noch dazu, weil sie ja berufstätig war. Die Neugier über diesen „Fall“ hatte von ihm völlig Besitz ergriffen. Doch jetzt kam auch die Angst auf, als aufdringlich zu gelten, gar als Stalker. Seufzend resignierte er – er würde nicht im „Uhlandpark“ nach ihr suchen und auch nicht vermehrt auf den Friedhof gehen.
Als Clemens einmal durch die Fußgängerzone schlenderte, sah er sie schon von weitem. Sie saß vor einem Café, einen Eisbecher vor sich. Da blickte sie in seine Richtung, erkannte ihn und nickte ihm zu.
Da sie ihn nicht demonstrativ ignoriert hatte, fühlte Clemens sich ermutigt, auf sie zuzugehen.
„Da sind Sie ja wieder, Herr Krebs!“„Bach ist mein Name – aber Krebs hat auch mit Wasser zu tun.“
Clemens stand eine Weile, dann fragte er: „Darf ich mich zu Ihnen setzen?“ Sie nickte.
„Ich schätze Sie so ein, dass Sie Ihrer Fährte folgen, Herr Bach, dass Sie am Ball bleiben. Und dass Sie mich deswegen bei jedem möglichen Treffen weiter ausquetschen würden. Darum will ich Ihnen lieber jetzt ein paar Dinge erzählen!“
Clemens blickte zu Boden, räusperte sich mehrfach und bestellte ein kleines Bier.
„Ich war Dialyse-Patientin und ich bin Pharmaberaterin. Als solche sollte ich viele Arztpraxen aufsuchen – nicht nur hier in der Gegend. Nein, im ganzen südlichen Landesteil. Als Patientin hatte ich meine zwei Blutwäsche-Termine während der Woche und einen am Wochenende. Beruf und meine Krankheit passten ganz schlecht zusammen. Irgendwann kam ich auf die Warteliste für ein Spenderorgan. Da ich noch vergleichsweise jung und berufstätig bin, musste ich nur drei Jahre warten. Offensichtlich hatte man Angst vor meiner Berufsunfähigkeit.“
Sie unterbrach und löffelte an ihrem schon ziemlich zusammen-geschmolzenen Eis. Und Clemens trank einen Schluck.
„Vor einem halben Jahr wurde ich plötzlich einbestellt in die Nephrologie der Uniklinik. Und erhielt eine für mich neue, aber ‚gebrauchte‘ Niere. Mein Körper wehrte sich gegen das fremde Organ, doch mit starken Medikamenten wurde die Abstoßung verhindert.“
Sie pausierte erneut, rührte in dem Becher mit dem Eisrest, schob ihn dann aber von sich.
„Nun hat sich mein Körper einigermaßen an die fremde Niere gewöhnt. Dazu musste meine Immunreaktion heruntergefahren werden, ich muss deswegen laufend Medikamente nehmen, bin ich auch viel anfälliger geworden.“
Jetzt blickte sie Clemens direkt an.
„Und da ist noch etwas – Avenos Botschaft!“
Clemens stellte sein Bierglas wieder ab, ohne getrunken zu haben.
„Ich weiß es inzwischen auswendig, so oft habe ich es gelesen. In dem Brief, den ich über Avenos Sohn erhielt, stand:
Liebe Empfängerin, lieber Empfänger,
ich hoffe, mein Organ erlaubt Ihnen jetzt, ein besseres Leben zu führen.
Und ich lebe nun zu einem Teil in Ihnen weiter.
Sie und ich sind also eine innige Verbindung eingegangen.
Ich will, dass diese Verbindung auch von Ihnen aktiv gepflegt wird.
Besuchen Sie deshalb möglichst oft mein Grab
und berühren meinen Grabstein!
Sie werden die Kraft spüren, die Ihnen dann zufließt
Ihr Paul Aveno“
Nun schwieg die Frau. Nach einer Pause fuhr sie fort: „Zuerst war ich nur dankbar für dieses neue Organ. Doch dann kamen mir Zweifel, ob Herr Aveno so uneigennützig gehandelt hat.“
Clemens nagte an seiner Unterlippe, dann begann er: „Zwei Fragen liegen mir da auf der Zunge, Frau….?“
„Moosmann“, ergänzte sie und ein Hauch von Lächeln lag um ihren Mund.
„Zwei Fragen, Frau Moosmann, nämlich: Man hört immer wieder davon, dass Organe Eigenschaften ihrer früheren Besitzer gespeichert haben, dass es also so eine Art Körpergedächtnis gibt. Und dieser Gedächtnisinhalt geht dann auf den Empfänger über, der plötzlich irgendeine bislang unbekannte Neigung entwickelt!“
Frau Moosmann sah ihn erstaunt an. „Und Ihre zweite Frage?“
„Was hat es mit der Kraft auf sich,“ schob Clemens nach, „die Paul Aveno ankündigte oder in Aussicht stellte?“
Frau Moosmann tupfte sich umständlich den Mund ab.
„Zu Ihrer ersten Frage kann ich Ihnen nichts sagen. Mir hat vor der OP der Wein besser geschmeckt als jetzt. Sollte Aveno ein Weinliebhaber gewesen sein, spüre ich davon nichts. Durch die vielen Medikamente, die ich nehmen muss, mundet mir der Wein nicht mehr. Schade!“
Frau Moosmann sah Clemens nun direkt an.
„Zu Ihrer zweiten Frage: Da ist was dran! Immer, wenn ich Avenos Grabstein berührt habe, fühle ich mich besser. Ich weiß, das klingt nach übersinnlichem Hokuspokus. Aber es ist so. Dieses Gefühl hält vielleicht einen Tag lang an. Aber anders herum wirkt es auch: wenn ich beruflich unterwegs bin, und vielleicht drei Tage nicht zum ‚Auftanken‘ kommen konnte, fühle ich mich sehr schlapp, antriebslos, einfach schwach.“ Frau Moosmann machte eine Pause.
„Ich bin nun in eine neue Abhängigkeit geraten. Ich mag es mir gar nicht ausmalen, wie ich fühlen würde nach einer Woche Abstinenz von diesem ‚Kraftstein‘. Ich traue mich nnicht in Urlaub zu fahren. Und was wäre, wenn ich wieder für länger in eine Klinik müsste?“
„Darum also haben Sie Ihre Hand auf den Grabstein gelegt – oder gepresst, so wie mir schien?“
„Genau so ist es, Herr Bach. Glauben Sie mir, eine ’normale‘ Spenderniere – ohne Auflage – wäre mir deutlich lieber. Wenn ich das im Transplantations-Zentrum erzähle, das mit dem Aveno-Grabstein, die halten mich für verrückt. Für komplett meschugge!“
„Ich fühle mich erpresst“, stieß sie nun laut hervor, so dass die Personen am Nachbartisch aufsahen.
„Ein Geschenk mit einer harten Bedingung – das ist doch kein Geschenk!“
Und immer noch in Rage schob sie nach: „Von Aveno jr. wollte ich mehr über seinen Vater erfahren. Seine Eigenschaften, seine Beweggründe. Doch der Sohn hat mich nur wissen lassen, dass ich ihn in Ruhe lassen solle. Er habe seinen Auftrag erfüllt und damit sei für ihn alles erledigt!“
Frau Moosmann atmete mehrmals tief.
Natürlich habe ich nach dem Namen gegoogelt. Aber ich fand nichts, rein gar nichts. Man muss seinen „digitalen Nachlass“ vollständig entfernt haben. Merkwürdig, nicht?“ Sie sah Clemens direkt an:
„Nun, Herr Bach, konnte ich Ihre Neugier befriedigen?“
Clemens nickte und bedankte sich.
„Dann bis irgendwann wieder im Friedhof!“
Frau Moosmann erhob sich und murmelte: „Ade. Ich habe schon bezahlt – gleich bei der Bestellung!“
„Auf Wiedersehen!“ wollte Clemens ihr nachrufen, doch dann brach es laut aus ihm heraus: „Wenn Sie den Brief nicht bekommen hätten, Frau Moosmann, was dann? Oder wenn Sie ihn ungeöffnet weggeworfen hätten?“
Frau Moosmann blieb ruckartig stehen, drehte sich langsam um und blickte ihn mit aufgerissenen Augen an. Stumm stand sie so eine Weile. Doch dann eilte sie davon.
Bei der morgendlichen Zeitungslektüre, etwa zwei Monate nach dem Treffen, entdeckte Clemens eine Todesanzeige der Firma PHARMkurat hier aus Messelstadt:
Frau Gundula Moosmann,
langjährige verdiente Außendienstmitarbeiterin unseres Unternehmens, ist im 42. Lebensjahr
nach einem Bagatellunfall völlig überraschend gestorben.Wir werden Ihr ein ehrendes Andenken bewahren…-
Der Kraftfluss unterbrochen, dachte sich Clemens, so ein Shit! Die Spenderniere – ein übles Danaergeschenk!
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