Eine Ezählung von Werner Leuthner ©
Bernd Rychel hatte als Lehrer hier am Gymnasium die Fächer „Deutsch“ und „Ethik“ unterrichtet und war nun schon fünf Jahre im Ruhestand. Seine Lieblingslektüre in allen Zeitungen, die er in die Finger bekam, waren die Todesanzeigen. Diese studierte er hingebungsvoll. Und mit einer ihm selbst nicht ganz geheueren Genugtuung.
Irgendwann kam ihm die Idee, als Trauerredner zu wirken und so dem Sterben und dem Tod näher zu kommen. Nicht nur vermittelt auf Distanz und durch Todesanzeigen. Er las entsprechende Berufsbilder und bildete sich autodidaktisch fort.
Er hatte ja schon eine breite Basis. Und er konnte zuhören und emphatisch sein. Seinen ersten Einsatz hatte er bei der Trauerfeier für einen ehemaligen Kollegen. Nachdem dieser Auftritt erfolgreich ablief, war er sich sicher, dass dies für ihn im Ruhestand das richtige Betätigungsfeld war. Allerdings musste er sich mit seinen persönlichen Ansichten sehr zurück halten.
Für Bernd Rychel waren die Menschen unbelehrbar. Kriegsfolgen hatten sie nie davon abgehalten, weitere Kriege zu führen. Inzwischen mit modernster, effizienter Technologie – doch dahinter die alten archaischen Muster. Und die Ausplünderung des Planeten schritt ungehindert voran. Für den Planet „Erde“ war die Menschheit sicher wie eine schlimme Krätze. Deshalb musste jeder Todesfall dem Planeten ein Quäntchen Erleichterung bringen. Doch die Weltbevölkerung wuchs stetig weiter und damit die Belastung für diese Welt.
Die Hinterbliebenen hatten sich auch das Paul-Gerhard-Lied „Wir sind nur Gast auf Erden“ gewünscht. Beim Spazierengehen summte er erste Strophe vor sich hin:
„Wir sind nur Gast auf Erden, und wandern ohne Ruh,
Mit mancherlei Beschwerden, der ewgen Heimat zu!“
Ihm gefiel dieses Lied auch, doch an zwei Begriffen störte er sich, und zwar immer wieder an „Gast“ und an „Heimat“!
In seiner Vorstellung bedeutete „Gast“, dass man eingeladen wurde. Dass man folglich auch die Möglichkeit gehabt hätte, die Einladung auszuschlagen. Doch niemand ist je gefragt worden. Niemand konnte gefragt werden. Ungefragt ist jede und jeder zu Welt gekommen. Wer hätte auch antworten sollen? Vor der Befruchtung gab es nichts. Und der Zellhaufen danach kann sich auch nicht äußern. Doch dann ist es bereits zu spät. Bis man auf die hypothetische Frage „Wolltest du denn auf die Welt kommen?“ antworten kann, muss man in seiner persönlichen Entwicklung schon sehr weit fortgeschritten sein. Später würde die Frage dann vielleicht lauten: „Willst du auf der Welt sein oder bleiben?“.
Sollte man nicht die erste Zeile in diesem Liedtext umformulieren; wie wäre es mit:
„Vorübergehend sind wir auf Erden“ Das sind zwei Silben mehr als beim Original. Oder:
„Begrenzte Zeit sind wir auf Erden“. Auch nicht besser.
Statt „Gast“ das Wort „kurz“ zu nehmen, schien ihm zu dürftig. Dann wollte er es doch bei der alten Form belassen.
Der Begriff „Heimat“ war für Rychel zuerst einmal ein Ort oder eine Gegend, wozu man eine emotionale Bindung hat. Entweder aus eigener Erfahrung, weil man dort aufgewachsen ist, oder aus der Schilderung seiner Eltern oder Großeltern, wie etwa bei den Heimatvertrieben.
Aber von der „ewgen Heimat“ konnte ja niemand berichten, es ist ein reiner Sehnsuchtsort. Ist man von dort aufgebrochen bei der Geburt? Niemand hat eine Erinnerung daran. Niemand kann eine Erinnerung daran haben!
Aber dann doch der Ort, an dem es im Gegensatz zum oft beschriebenen „Jammertal“-Erde eben keine Beschwernisse, Krankheiten, Not und Bedrängnis mehr gibt. Also eigentlich das Paradies.
Doch da gibt es für die Gläubigen noch eine Hürde zu überwinden, grinste Rychel in sich hinein, das Fegefeuer. Er war froh, nicht kirchengläubig zu sein. Er würde einmal diesen Umweg nicht nehmen müssen.
Darauf musst er bei den Gesprächen mit den Hinterbliebenen achten. Doch in der Regel kamen zu ihm, dem „Freien Trauerredner“, überwiegend Leute mit nur noch geringer oder gar keiner Kirchenbindung mehr.
Ein Begriff schien Rychel alle Veränderungen überdauert zu haben, der Begriff der Seele.
Aber auch sein Lieblingsphilosoph Arthur Schopenhauer brachte ihn hier nicht weiter. Dieser schrieb, „Die sogenannte Seele ist die Verbindung des Willens mit dem Intellekt“.
Dies aufzugreifen, würde alles verkomplizieren und seiner Absicht zuwider laufen, auf ein allgemein verbreitetes Verständnis von Seele zu bauen.
Auch die moderne Hirnforschung war für ihn nicht hilfreich, taucht doch dort der Begriff „Seele“ kaum mehr auf. Forschungsgegenstand ist jetzt „Geist“ oder „Gehirn“. Ihm, Rychel, war eine reduktionistische Sicht, dass alles „Geistige“ auf, chemisch-elektrische Prozesse zurückzuführen sei, selbst zu nüchtern und musste erst recht für seine Kundschaft enttäuschend sein.
Auch aus der Sicht der Hinterbliebenen kam es ja weniger auf die geistige Kompetenz an, die einen Verstorbenen auszeichnete, sondern auf seinen Charakter, sein Wesen. Also die immaterielle „Essenz“, die als Seele bezeichnet wird. War er oder sie eine „Gute Seele“?
Bei seinen Spaziergängen trug Bernd Rychel – ganz altmodisch – ein Notizbuch mit sich und hielt darin seine Einfälle zum Begriff „Seele“ fest. Redewendungen und zusammengesetzte Wörter.
Irgendwann stellte er diese Liste zusammen:
- sich etwas von der Seele reden,
- Worte, die Balsam für die Seele waren,
- ein Herz und eine Seele sein,
- es liegt mir auf der Seele,
- du sprichst mir aus der Seele,
- mit Leib und Seele dabei sein,
- seine Seele dem Teufel verkaufen,
- nun hat die arme Seele Ruh‘,
- Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen,
- darauf erpicht sein, wie der Teufel auf die arme Seele,
- eine schwarze Seele haben,
- Die Absicht ist die Seele der Tat,
aber auch einzelne Worte wie „seelengut“, „seelenruhig“, “unbeseelt“, „unselig“, „Seelenheil“ oder „Seelsorger“.
Er wollte diese Aufzählung dahin gehend abklopfen, was für den Einsatz bei seinen Trauergesprächen geeignet wäre.
Ganz aus der Reihe fiel dabei etwas durchaus Materielles, das im süddt. Raum vorkommende Gebäck „Seele“. Meist ist es mit Salz und Kümmel garniert und sieht wie ein kleines Baguette aus (und schmeckt ähnlich). Wie kam diese Art von „Weißbrot“ wohl zu seinem Namen, rätselte Rychel. Neben all den Semmeln, Wecken, Brötchen, Schrippen, Laugenwecken und Laugenstangen? Stellte man sich so die Form von Seelen vor: etwas über 20 Zentimeter lang, sechs bis sieben Zentimeter breit und drei hoch?
Rychel stand dem Seelenglauben sehr skeptisch gegenüber, vor allem dem der kirchlichen Ausprägung. Die Seele ist unsterblich – so lautet das Dogma. Doch wenn die Seele die personale Essenz eines Menschen ist, so muss sie sich im Laufe des Lebens eben dieses Menschen erst heranbilden und ausprägen. „Reifen?“
Bei der Geburt wird dann diesem neuen Menschlein eine Seele „von Gott zugeteilt“. Oder eine Seele geht auf irgendeinem geheimnisvollen Wege die Verbindung zu diesem Neugeborenen ein, das ja noch keine Persönlichkeit ist oder hat. (Rychel hielt es deswegen für völlig unwahrscheinlich, dass diese Koppelung schon mit der Zeugung erfolgen könnte).
Es war für Bernd Rychel logisch, dass diese so verbundene Seele ein „Blanko“-Exemplar sein müsse, denn diese sollte ja im Laufe des Lebens mit all dem „gefüllt“ werden, was diesen einen Menschen später ausmacht!
Rychel plagten Zweifel. (Doch von diesen Zweifeln bekamen seine Kunden nichts mit). Da Seelen ja unsterblich sind, müssen sie schon vorhanden sein! Es müsste also einen unerschöpflichen Fundus an Seelen geben. Jetzt leben etwa acht Milliarden Menschen auf der Erde. Hinzu kommen die vielen, die schon früher lebten…
Die Kirchengläubigen gehen von der Weiterexistenz ihrer Seelen aus – möglichst nahe bei (ihrem) Gott, also in der „ewgen Heimat“.
Und was passiert mit den Seelen der Ungläubigen? Werden diese recyclet? Nach einem „Reset“ erneut in Umlauf gebracht? Ganz nachhaltig!
An eine für Rychel sympathischere Sicht von Seelen im Jenseits konnte er sich bei Dante erinnern. In Dante Alighieris „Commedia“ – vor etwa 700 Jahren erschienen- werden Seelen als sichtbare Schatten beschrieben. Man konnte sie aber nicht anfassen oder umarmen, auch wenn sie eine (ihre) Stimme besaßen. In der christlichen Lehre sind Seelen körperlos und (eigentlich) unsichtbar. Doch wie kann man Gläubigen so etwas Unsichtbares vermitteln?
Rychel kamen verschiedene mittelalterliche Darstellungen von Sterbenden in den Sinn. Darin sieht man eine (kleine) menschliche Gestalt aus dem Mund des Moribunden entweichen: die Seele. Und oft streiten sich dann ein Engel und ein Teufel um diese sich vom Körper lösende Seele.
Die Ägypter haben dagegen den „Geist“ des Toten als Vogel dargestellt. Bereits in den Höhlen von Lascaux, also vor circa 20.000 Jahren, hat man den nichtmateriellen Teil des Menschen in Form von „Totenvögeln“ veranschaulicht.
Der Stauferkaiser Friedrich II. wurde für seine Naturbeobachtungen berühmt, zum Beispiel mit seinen Aufzeichnungen über die Falknerei. Von diesem Friedrich wird berichtet, dass er einen zum Tode Verurteilten in ein dichtes Fass einschließen ließ. Wie zu erwarten, erstickte der Unglückliche dort. Friedrichs Überlegung war, dass die Seele des Toten aus diesem Behältnis ja nicht entweichen konnte und folglich zu sehen sein müsste. Er ließ dann das Fass vorsichtig öffnen. Außer dem Toten war nichts zu entdecken. Von dem Gesuchten also keine Spur…
Bei seinen Recherchen zum Thema „Seele“ stieß Rychel auch auf den amerikanischen Arzt Duncan MacDougall (1866 -1920), der Sterbende auf die Waage legte und ihr Gewicht vor und nach deren Tod ermittelte. Die Gewichtsunterschiede betrugen zwischen 8 und 35 Gramm. Das müsste ja dann das Gewicht der flüchtigen Seelen sein, schlussfolgerte MacDougall. Doch nachdem die Versuchsreihe nur sechs „Probanden“ umfasste, gerieten seine Ergebnisse in Vergessenheit…
Teil II
Da wurde an Bernd Rychel ein ungewöhnlicher Antrag gestellt. Ob er nicht schon als Sterbebegleiter wirken könne? Ein späterer Einsatz als Trauerredner würde sich dann ja geradezu anbieten, da er den Sterbenden noch persönlich kennengelernt habe.
Der Betroffene sei 66 Jahre alt, leide an einer inzwischen unheilbaren Form von Leukämie, seine Lebenserwartung sei – optimistisch geschätzt – noch 14 Tage. Er sei Forstarbeiter gewesen und heiße Franz Kornhaas.
Rychel hatte Bedenken, ob er bei jemandem, der eine vergleichsweise einfache Arbeit ausgeübt hatte, den „richtigen Ton“ treffen würde. Doch Rychel war neugierig und sagte zu.
Das Zimmer im Hospiz, in dem Herr Kornhaas untergebracht war, war hell und geräumig und das Bett stand mit dem Fußende zum Fenster. Rychel räusperte sich, doch nichts geschah. Er trat zum Bett und erschrak: ein großer und völlig abgemagerter Mann lag da im Bett, das Kopfteil erhöht. Zugedeckt mit einer leichten Decke, auf der Arme und Hände lagen. Kornhaas wandte den Kopf und sah ihn erwartungsvoll an.
„Ich heiße Bernd Rychel“, so stellte er sich vor. „Ihr Sohn meinte, ich könnte mich mit Ihnen unterhalten? Darf ich mich zu Ihnen setzen?“
Rychel wartete und es kam ihm sehr lange vor bis Herr Kornhaas nickte. Rychel zog einen Stuhl heran, setzte sich und verharrte so.
Dann sprach Herr Kornhaas mit leiser Stimme: „So, mein Sohn hat Sie also geschickt? Sind Sie denn Pfarrer?“
„Geschickt? Das trifft es nicht. Da ich im Ruhestand bin, habe ich viel Zeit. Und Ihr Sohn hat dies mitbekommen und wohl gemeint, es wäre eine Abwechslung für Sie. Ich bin kein Pfarrer; ich war Lehrer“.
„Mir ist nicht langweilig! Mir war nie langweilig!“ und nach einer Pause: „Ich war oft alleine in meinem Wald und hatte nichts vermisst!“
„Was haben Sie unterrichtet? Naturkunde? Biologie?“
Rychel schüttelte den Kopf: „Nein, nicht Bio – Deutsch und Ethik!“
„Schade!“
„Aber vielleicht wollen Sie sich ja nicht über Gehölze mit mir unterhalten, sondern über die knappe Zeit, die Ihnen noch bleibt“, entgegnete Rychel.
Kornhaas lachte heiser: „Also doch Pfarrer!“ Ich habe nichts zu beichten. Ich bin mit mir im Reinen! Es gibt für mich nichts mehr zu klären. Die Person, die ich vernachlässigt habe, die zu kurz gekommen ist, da kann ich nichts mehr gut machen. Die ist schon lange tot, Else, meine Frau!“
Kornhaas holte ziehend Luft.
„Und mit meinen beiden Kindern gibt es nichts zu klären! Sie erben das Häuschen je zur Hälfte. – Aber ich bin ihnen dankbar, dass ich hier sein kann. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass das alles die Krankenkasse zahlt! Schönes Zimmer, sehr freundliche Leute. Gutes Essen, von dem ich kaum etwas zu mir nehmen kann. Wirklich wie im Urlaub!“
Kornhaas machte eine Pause: „Es geht mir gut. Ziemlich gut sogar!“
Er hielt wieder inne, dann: „Keine Schmerzen. Nur müde – immer müde! Vom Nichtstun müde! Ich verstehe das nicht. Ich werde noch mein Sterben verschlafen. Dabei will ich doch das wissen, wie es ist, das mit dem Sterben! Wissen Sie, wie das ist? Herr…Herr…? Entschuldigung. ich hab‘ ihren Namen vergessen!“
„Das macht nichts“, entgegnete Rychel, „mein Name ist auch nicht so geläufig. Rychel heiße ich!
Er hielt inne.
„Ich glaube, jede oder jeder stirbt anders. Es ist immer ein ganz persönlicher Vorgang. Haben Sie denn eine bestimmte Erwartung, Herr Kornhaas?“
Kornhaas lächelte: „Ja, ich glaube, ich werde immer leichter. So leicht, bis ich abheben kann. Ich meine nicht meinen Körper.“ Er bewegte seine rechte Hand und beschrieb damit einen Bogen vom Kopf bis zu den Füßen. „Ich bin schon sehr dünn geworden. Ich wog einmal über 90 Kilo und jetzt nur noch knapp Sechzig. Aber das meine ich nicht. Ich meine das ‚Innerlich-leicht-werden’“.
Nun schwiegen beide.
Rychel räusperte sich wieder: „Und Sie fühlen sich jetzt schon fast leicht genug, um abzuheben?“ Kornhaas nickte. „Ich freue mich auf das Wegschweben. Ich stelle mir das vor wie bei einem Distelsamen, den ein Windhauch trägt.“
„Ja, das muss schön sein, so zu schweben“, sagte Rychel, lächelte Kornhaas an und ergriff seine Hand.
Kornhaas nickte. „Und wenn ich hoch genug bin, werde ich Else treffen!“
„Ganz sicher werden Sie das“, sagte Rychel und drückte Korhaas‘ Hand noch fester. „Und ihre Frau wird Ihnen nichts nachtragen; sie wird sich nur freuen. Auf Sie, auf ihren Franz!“
Lange verblieben die beiden so. Stumm. Rychel wandte den Kopf, sah zum Fenster hinaus, verfolgte die Wolken und verlor das Zeitgefühl. Irgendwann hatte er das Bedürfnis, seine Hand und seinen Arm zu bewegen, da beides einzuschlafen drohte. Da bemerkte er, dass Kornhaas‘ Hand nur locker in seiner lag. Er erschrak und fuhr mit einem Ruck herum. Kornhaas‘ Mund war leicht geöffnet, die Augen geschlossen – er atmete nicht mehr.
Rychel legte Kornhaas‘ Arm und Hand sanft auf der Decke ab und strich die Finger glatt. Langsam erhob er sich und murmelte: „Nun habe ich ihr Abheben verpennt! Leicht wie ein Distelsamen sind Sie los. Und den Windhauch habe ich gar nicht verspürt“. Rychel blickte zum gekippten Fenster. Und lächelte, als er das Zimmer verließ.
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